In der Dorfkirche zu Herrstein

Meine Jugenderinnerungen sind mit der Dorfkirche aufs innigste verknüpft. Hoch über dem Ort mit seinen Türmen und zerbrochenen Mauern steht sie auf dem Steine, der dem Orte den Namen Herrstein, d. i. Herrensteine, gegeben hat. Steigt man die hohe Treppe neben den Steinen hinauf, was den alten Leuten schwer fällt, so steht man auf dem Kirchhof, der schon seit 150 Jahren nicht mehr als Begräbnisstätte dient. Teile der alten Festungsmauern und die Reste der Türme umgeben ihn. Als Kind schon malte ich mir aus, wie hoch einst die Türme und die Mauern, die auch in Trümmern liegen, gewesen sein mögen.

In der Kirche war der Boden unter den Bänken morsch, und man trat durch die Löcher in den Staub der Jahrhunderte. Im Chor standen an der Wand entlang in Hufeisenform zwei Reihen Bänke; auf der einen saßen beim Gottesdienst die Mädchen und auf der anderen die Buben.

Im Sommer war es da immer schön kühl und im Winter entsetzlich kalt, da keine Heizung in der Kirche war, und da wir Knaben keine Mäntel hatten und unsere Schuhe von Schnee, dessen tiefste Stellen wir ausprobierten, vielmals nass waren, so zitterten wir oft vor Kälte.

In den Wänden sind zahlreiche Grabsteine von Amtmännern, Pfarrern und deren Frauen befestigt, und auf dem Boden lagen auch Grabplatten mit Inschriften, die jetzt verschwunden sind. Der ganze Fußboden um den Altar herum und vor dem Pfarrstuhl und der Kanzel barg Gräber angesehener Leute.

Auch ein Graf, Ernst von Götz, der im Dreißigjährigen Krieg in Fischbach gestorben war, hatte in der Kirche, der er eine Geldsumme auf dem Totenbett vermacht hatte, seine letzte Ruhestätte gefunden.

Damals wussten wir Knaben nicht, wer da in der Kirche bestattet war. Wir erzählten uns von Grafen und adligen Damen, die da ruhen sollten, und wo sich in der Wand der Rand der Grabplatte gelöst hatte, bohrten wir wohl mit den Fingern, um einen Ring oder ein anderes Geschmeide der da Schlafenden ans Licht zu bringen.

Die Glocken wurden von den Knaben geläutet, sowohl bei Beginn der Kirche und bei Beerdigungen als auch täglich beim Anfang des Schulunterrichts. Sie waren recht schwer, und da sie nie gut in Ordnung waren, gingen sie nur mit Mühe, so dass mehrere Knaben am Glockenseil zogen. Als ich in die Schule aufgenommen war, durfte ich bald mitläuten, d.h. ich durfte den Schwanz halten; so nannte man das unterste Ende des Glockenseiles, das ich festhielt, damit es nicht umherschlug und die Kirchenbesucher, die vorbei mussten, belästigte. Bald kante ich auch die Geheimnisse des Glockenläutens. Zuerst wurde gewalkt; d. h. die Glocke wurde in Schwingungen gesetzt, so dass der Klöppel nicht anschlug. Dann hörte man den mächtigen Schritt der Glocke im Gebälk. Nun erst begann das Läuten, und zum Schlusse walkte sie wieder, wie es der Dichter im dem Gedicht „Die wandelnde Glocke“ beschreibt.

Bei Beerdigungen begann das Läuten, wenn der Leichenzug sich am Trauerhause in Bewegung setzte, und verstummte, wenn der Sarg in dem Kirchhof ankam. Da war eine Reihe von Knaben erforderlich, um durch Winken mit der Hand den Beginn und den Schluss des Läutens den Knaben, die am Glockenseil standen, mitzuteilen.

Auf der Kirche, im spitzen Turme, der seit 50 Jahren verschwunden ist, war noch ein kleines Glöcklein aus Zink, mit dem ein Zeichen gegeben wurde, wenn der Pfarrer aus dem Pfarrhaus ging, um im Trauerhause die Leiche abzuholen. Wenn es „zinkte“, gingen die Leute, die die Leiche begleiten wollten, auch von zu Hause weg.

Wir mussten auch damals bei Schulanfang in der Kirche läuten und um 11 Uhr zu Mittag.

Auch beim Orgelspiel wirkten wir mit, indem wir die großen plumpen Bälge an einem mächtigen Hebel von Eichenholz hochzogen. Oft machten wir dem Lehrer zittrige Töne in sein Spiel, indem wir am Hebel wackelten, was nur ungestraft abging, weil der Lehrer uns von seinem Sitz vor der Orgel nicht sehen konnte.

Im letzen Monat unseres Besuches der Volksschule lockerte sich allmählich der Schulzwang. Man gab den Konfirmanden, Knaben und Mädchen, frei, damit sie die Kirche zur Konfirmation schmückten. Die Knaben holten frisches Tannengrün auf Handwägelchen aus dem Walde. Die Mädchen machten Kränze daraus und verzierten sie mit Papierrosen. Mitten in der Kirche am Gewölbe hoch oben wurde eine Krone aus gefranstem Papier aufgehängt.
Am Konfirmationstage bekamen wir die ersten Sonntagsstiefel, Schuhe waren nicht üblich, die erste Mütze aus Seide mit schwarzem Lederschirm, und als Hauptkleidungsstück einen Schussrock mit zwei Knöpfen hinten.

Wie war es doch früher anders als heute. Immer wieder, wenn ich nach Hause komme, erinnert mich der Anblick der Kirche an die Jugendjahre.

Ich empfinde, wie das Gotteshaus mit all meinen Jugenderinnerungen aufs engste verbunden ist, und höre im Geiste die schweren Glocken ernst und festlich läuten.